„Farbecht und vermessen“

Nein, einen Offenbarungseid werde ich jetzt nicht leisten. ‚Was da genau im Tagungsraum Weitblick des Rudolf-Krämer-Hauses in Bad Liebenzell an einem frühen Sonntagmorgen zwischen mir und Ina Oertel aus Chemnitz besprochen wurde, wird stets unser Geheimnis bleiben.
Soviel aber sei verraten: Die anderthalb Stunden fühlten sich für mich an wie ei-ne dreiviertel Stunde. Der Zuwachs an Erkenntnis hernach ist enorm. Ina Oertel ist Diplompädagogin mit psychologischer Fortbildung und hat eine Zusatzausbildung zum Image-Consultant, wie das auf Neu-deutsch heißt. Mit diesem Wissen berät sie Menschen, die gut gekleidet sein wollen oder müssen. „Kleider machen Leute“, das wusste nicht nur Gottfried Keller, Kleider entscheiden auch über den ersten Eindruck von einem Menschen, den Mann oder Frau noch nie gesehen hat. Wenn beispielsweise bei einem Bewerbungsgespräch die Tür aufgeht und der Kandidat eintritt, entscheiden die ersten beiden Sekunden ganz wesentlich über die Frage: sympathisch oder unsympathisch. Daran ist kaum zu drehen, denn dieses einteilen in Freund und Feind ist tief eingebrannt im menschlichen Instinkt. Also will man doch Freund sein. Und das muss man nicht dadurch erreichen, dass man versucht, mehr zu scheinen, als man ist, sondern indem man sein Licht nicht unter den Scheffel stellt und nicht verbirgt, was Mann oder Frau hat. Und was einer hat bzw. wie einer aus-sieht, kommt auch durch die Farbwahl der Kleidung zur Geltung.Ich sitze vor einem Spiegel, mein Pulli ist mit einem neutralen Umhang verhängt. Frau Oertel kommt mit einem ganzen Bündel Tücher, jedes hat eine andere Farbe, und die hält sie mir jetzt nacheinander vors Gesicht.„Hier kommen Ihre Haut und Ihre Gesichtszüge prima zur Geltung“, sagt sie triumphierend, als sie das blaue Tuch vor meiner Visage schwenkt. „Und das hier“, setzt sie verschmitzt hinzu, „sieht echt krank aus“, und legt ein braunes Stück Stoff beiseite. Nach mehreren Minutenist klar und bewiesen, was für Ina Oertel keine Überraschung war: Ich bin ein farblicher Wintertyp. Eine Gänsehaut überläuft mich. Ich soll ein Wintertyp sein, der ich nichts mehr verabscheue als Kälte? Doch sie beruhigt: Das heißt nur, dass mir die Farben stehen, die die Natur im Winter feil bietet. Eindeutige, reine Farben, also keine Mischfarben.
Und ganz nebenbei habe ich so auch einen Vorteil: Ich will mir keine großen Gedanken machen müssen, was ich beim morgendlichen Griff in den Kleiderschrank wähle (typisch Mann). Da ich eindeutige Farben tragen soll, sollte die Kombination keine Probleme machen. Das ist eine gute Botschaft.
Teil eins ist geschafft. Und obwohl ich als quasi Geburtsblinder von Farben so viel Ahnung ha-be wie der berühmte Ochs vom Klavierspielen, denke ich doch, dass dem Ochsen Künftig ein paar gute Akkorde gelingen werden, wenn er von Verkäuferinnen in farbenfrohe Gespräche verwickelt wird. Aber die Farbe ist nicht alles; kommen wir zur Form und gehen von oben nach unten. „Sie haben ein markantes Gesicht“, schmeichelt Ina Oertel, und sie zeigt mir mit ihren Händen, was sie meint: Die Wangenknochen sind breit, das Kinn eher schmal, „hier aber“, und ihre Hände wuscheln mir ins Haar, „ist zu viel Volumen drin. Lassen sie sich einen Stufenschnitt machen, ruhig die Ohren frei, dann wirkt Ihr Gesicht besser“. Okay, leuchtet ein, und so werden denn nächstens beim Friseur die Haare rieseln.
Tiefer geht’s, und ich erfahre, dass es bei den Männern fünf Grundbauarten gibt. Nun, der sportliche Typ mit extrem breiten Schultern und schmalen Hüften bin ich nicht; aber ich bin auch nicht birnenförmig wie Thomas Gottschalk im Fernsehen. Glück gehabt. Ich gehöre, erfahre
ich, zum Typ „natürlicher Mann“; klingt ein wenig euphemistisch. Gemeint ist, dass die Linie von den Schultern zur Hüfte relativ gerade verläuft. Entsprechend soll ich darauf achten, dassmeine Oberteile als Schnittführung der so genannten H-Linie folgen, X- oder Y-förmige Schnitte wären für mich weniger vorteilhaft.
Und wieder geht’s bergab: „Ihre Hose ist zu groß“, erfahre ich. Ich hätte gesagt, meine Hose ist bequem. Also stehe ich auf, entledige mich meiner Schuhe und werde vermessen. Es geht nicht um die absolute Länge in Zentimetern, die kenne ich und sie steht im Pass. Ich erhalte vielmehr den Beweis für eine Vermutung, die ich schon häufig in engen Flugzeugen hatte: Meine Beine sind praktisch kurz, mein Oberkörper im Verhältnis dazu lang. Also sollte ich mit der Hose die Beine optisch strecken, und das geht nicht, wenn sie zu viel Stoff hat, Falten wirft und nicht gerade fallen kann.
Das sind nur ein paar Impressionen eines gelungenen Vormittags. Und da der Mensch vergesslich ist, bekomme ich alles noch zum Nachlesen überreicht und – als Argumentationshilfe beim Einkaufen – einen Farbpass. Kleine farbige Kärtchen mit meinen Farben sind zusammengeheftet und mit Punktschrift beschriftet. An ihm wird künftig keine Verkäuferin, die mich beraten will, vorbeikommen. Peter Beck