Seminarbericht -Bildung ohne Barrieren- „Moderne Umgangsformen“

„Wer zuerst grüßt“…
Wer von uns hat nicht schon einmal versehentlich eine Topfpflanze begrüßt oder einen voll besetzten Raum betreten, ohne zu wissen, wo noch ein Platz frei ist? Wer wollte immer schon wissen, wo nach dem Essen die Serviette hin gehört (nein, nicht auf den Boden) und welche Farben besonders wirkungsvoll sind?

Das von BOB (Bildung Ohne Barrieren) angebotene Seminar „“Moderne Umgangsformen in Beruf und Alltag“, das an einem sehr winterlichen Wochenende in der AURA-Pension in Georgenthal stattfand, sollte Antworten auf all die Fragen geben, die sich Sehbehinderte und Blinde immer schon gestellt haben. Die Referentin, Ina Oertel, ist als „Image Coach“ nicht nur auf Styling und Typ-Beratung spezialisiert. Sie hat in ihrer Tätigkeit beim Berufsbildungszentrum Chemnitz auch reichlich Erfahrung im Umgang mit jugendlichen Auszubildenden mit Sehbehinderungen. Mit andren Worten: sie weiß, was sich gehört!

Nachdem mein Partner erst noch Bedenken hatte – er konnte es als Kind schon nicht leiden, wenn es hieß: „das gehört sich aber so!“, , sind wir am 9. Januar dann ja doch zu zweit aufgebrochen in das beschauliche Häuschen im Thüringer Wald. Dort durften wir erst mal feststellen, dass von den bereits vorhandenen Seminar-Teilnehmerinnen und Teilnehmern uns niemand recht begrüßen zu wollen schien. Dass wir zu diesem Zeitpunkt schon alles falsch gemacht hatten, erfuhren wir ja leider erst am zweiten Tag, aber dazu später mehr.

Angesichts der Tatsache, dass auch niemand so recht zu wissen schien, wann das Seminar denn wohl anfängt (was heißt eigentlich;: Anreise bis 17 Uhr?),, beschlossen wir, erst mal einen Spaziergang durch den Schnee zu unternehmen. Im Anschluss daran lagen dann auch Aussaagen darüber vor, dass es heute abend noch eine „Begrüßungsrunde“ geben solle.
Die fand dann auch statt: elf Teilnehmerinnen und Teilnehmer (überwiegend Frauen! Überwiegend aus dem süddeutschen Raum – sind die „Nordlichter“ nicht an Manieren“ interessiert, oder wissen die sich im Gegenteil alle schon zu benehmen?). Viele von uns schienen in Kundenkontakt zu stehen (Telekom) oder als „Aktivisten“ in Sachen Schwerbehindertenvertretung und Personalrat tätig zu sein, oder in leitender Funktion (Kita). Es stellt sich heraus, dass uns Nneben dem äußeren Erscheinungsbild (steht mir meine Frisur) interessiert, wie wir auf andere wirken, wie wir mit ihnen in Kontakt treten können oder uns besser behaupten

Das „volle Programm“ gab es dann am nächsten Tag…
Samstag: das mit dem Benehmen fängt ja schon beim Frühstück an (Frau Oertel sitzt mit am Tisch, also besser vorsichtig sein!). Nach einer kleinen Runde durch den Garten ging es anschließend in die Tiefe, oder doch erst mal an die Oberfläche: der allererste Eindruck ist entscheidend, und der wird bei sehendenMenschen über die Optik hergestellt. Und schlimmer noch: die gucken auf das, was nicht passt. Seien es die schmutzigen Schuhe zum sauberen Anzug, die ungepflegte Frisur, der labbrige Pullover. Eine ganze Menge gibt es da zu beachten, auch sind wir nicht alle gleich. Wir müssen unseren Typ kennen, Schwachpunkte kaschieren und bitte, wenn wir eine Taille haben, dann sollen wir sie auch betonen. Ich denke an die vielen schönen Schlabberpullis in meinem Schrank und ärgere mich darüber, im Zeitalter der Friedensbewegung sozialisiert worden zu sein. Wir fanden das damals schick so, und über Taillen haben wir nicht nachgedacht. Wenigstens trägt Sebastian die richtige Hose, die Schuhe wurden vor dem Aufbruch nach Georgenthal geputzt. Und ob die andren so viel besser aussehen? Die haben doch auch bestimmt alle die falsche Frisur oder tragen keine Schuhe mit Absatz, weil unsereins damit sowieso nur in Pfützen tritt und sich Laufmaschen in die Strümpfe reißt, oder?
Männer haben ja oft das Glück, von der sehenden Partnerin beraten zu werden, naja. Frau Örtel hat viele Farbmuster dabei und Schnittführungsbeispiele, sie kann uns sehr anschaulich beschreiben, was für positive Effekte durch Farbe und Kleidung erzielt werden können und dies auch an den Teilnehmenden demonstrieren. Aber ist unser Aussehen wirklich alles?

Natürlich reicht es nicht, schick angezogen zu sein. Wir müssen auch lernen, ordentlich zu grüßen: wer in einen Raum tritt, begrüßt die Anwesenden,. Womit wir wieder beim Anfang wären: das hatten wir im Chaos unserer Ankunft wohl versäumt. Und weil wir als Blinde ja oft nicht wissen, ob jemand anwesend ist, grüßen wir sicherheitshalber am besten immer. Lieber einmal zu viel die Topfpflanze gegrüßt, als den Chef ignoriert.
Schön, wenn das mit dem Grüßen so einfach wäre. In Deutschland gehört ja noch das Händeschütteln dazu, und da wird es richtig kompliziert. Vor der (geschäftlichen) Sitzung: wer hat die meisten Krönchen auf, Aufstehen, wenn der Chef grüßt.
Während der Sitzung: Hände auf den Tisch, locker zusammen legen. Hände weg vom Mund. Und bei privaten gesellschaftlichen Anlässen sind die Krönchen erst mal zweitrangig, da ist wieder die Dame am wichtigsten…Zuerst die ältesteDame grüßen, dann weiter mit der nächst älteren. Wenn alle Damen begrüßt sind, kommen die Herren an die Reihe: Alter zuerst. Aber: bei mehr als acht Personen am Tisch können wir uns das sparen. Und die Dame entscheidet selbst, wem sie die Hand gibt. Zur Serviette kommen wir morgen!

Ach ja, und über Kunden-Profile und wie wir damit umgehen haben wir auch etwas gelernt: laut DISG-Profil lässt sich die Menschheit in vier Typen einteilen (dynamisch, initiativ, stetig und gewissenhaft). Wehe, wenn die dynamische Telekom-Beraterin an eine dynamische Kundin gerät oder die initiative Kinderbuchkäuferin gar nicht erst überzeugt werden muss von den Qualitäten des multimedialen Tierlexikons.

Sonntag, der letzte Tag. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, uns wenigstens die Rudimente des Benimms zu vermitteln, Aber Frau Oertel ist gut organisiert, und sie hat noch etwas vor. Die allgemeine Begeisterung beim Thema „Small Talk“ beweist, dass wir offenbar gerade diese Lektion besonders nötig hätten. Mich würde ja vor allem daran interessieren, wie ich es schaffe, immer wieder Menschen anzulocken, die mir in epischer Breite aus ihrem Leben erzählen. Aber dies ist dann doch wohl ein anderes Thema, und wir sortieren stattdessen Teller, Gläser und Bestecke für ein viergängiges Menü. Diese Aktion wird in Kleingruppen durchgeführt und sie birgt durchaus ihre Tücken: wie viele Besteckteile dürfen maximal auf eine Seite, darf die Suppenschüssel angehoben werden und was passiert mit der… ach ja, genau, die Serviette! Nicht in den Latz, auf den Tisch gehört sie. Rechtsbeim Essen, links, wenn sie nicht mehr benötigt wird. Und ganz zum Schluss, da darf sie auf den Teller, ein wenig unter das Besteck geklemmt. Und wie letzteres zu liegen kommt, das sollten sich die interessierten Leserinnen und Leser am besten von Frau Oertel höchst persönlich demonstrieren lassen!
In meinem Fall ist es eher unwahrscheinlich, dass ich des öfteren auf viergängige Mahlzeiten eingeladen werde, und immerhin weiß ich ja jetzt ungefähr, wie es geht (die Schuhe verschwinden bei solchen Gelegenheiten glücklicherweise unterm Tisch). Was ich aber unbedingt nachholen will, ist die Lektion in Small Talk und Konversation. Die Referentin bietet ja eine breite Palette an Trainingseinheiten an, und das nächste Mal bin ich bestimmt dabei, wenn es um die Merkmale höflichen Plauderns geht. Inzwischen grüße ich fleißig in unserem Institut alles, was steht oder sich bewegt, und übe schon mal an einer ordentlichen Verabschiedung.– Ach ja, und wer es bis hierhin geschafft hat, weiter zu lesen, darf auch noch etwas über unsere Unterkunft erfahren:
Im Anschluss an das Seminar haben wir dort noch einen Kurzurlaub verbracht, und wir waren begeistert. Die Aura-Pension ist sehr gemütlich eingerichtet, es gibt eine äußerst freundliche Hausleiterin und wir konnten wunderschön spazieren gehen. Ein Eiscafé mit Torte gibt es auch, und dank der netten Tischnachbarn aus Berlin konnten wir gleich ein paar der Umgangsrituale praktisch anwenden.

Vom 9. Januar bis zum 11. Januar 2009 in Georgenthal Gwendolyn Schulte